Bevölkerung nutzt Beschwerdeangebot der Wirtschaft - Werberat erhielt 915 Proteste gegen 479 Werbekampagnen

Bevölkerung nutzt Beschwerdeangebot der Wirtschaft - Werberat erhielt 915 Proteste gegen 479 Werbekampagnen

BERLIN, 25. März 2013 (dw) - Die Bürger in Deutschland lassen sich nicht nur von der Wirtschaft als Kunden mit Informationen über das Angebot umwerben, sie begleiten das kommerzielle Werbegeschehen auch mit kritischem Blick. Das geht aus der Arbeitsbilanz des Deutschen Werberats hervor, die das Gremium jetzt in Berlin für das Jahr 2012 vorstellte. Danach haben sich 915 Konsumenten mit Beschwerden über 479 Werbeaktivitäten an die Institution in Berlin gewandt. Die Motive der Proteste reichten von vermuteten Rechtsverstößen bis hin zu sozial motivierten Gründen wie beispielsweise unterstellter Diskriminierung von Menschen, Gewaltverherrlichung oder Gefährdung von Kindern oder Jugendlichen.

Werberat nicht für jeden kritischen Einwand zuständig

Gut die Hälfte der von Kritik betroffenen Werbekampagnen (174 Vorgänge) fiel nicht in den Kompetenzbereich des Werberats. So ist das Gremium nicht für angenommene Rechtsverstöße zuständig. Sie werden entsprechenden Institutionen zur rechtlichen Behandlung übergeben, wie gegebenenfalls der Staatsanwaltschaft oder der Zentrale zur Bekämpfung unlauteren Wettbewerbs (Bad Homburg). Auch dürfen Firmen den Werberat nicht für Werbestreitigkeiten mit Konkurrenten benutzen. "Deutschland verfügt mit den Instrumenten Abmahnung, Einstweilige Verfügung oder Klage über ausreichende Mittel, Firmenrechte geltend zu machen", erläuterte der Vorsitzende des Deutschen Werberats, Dr. Hans-Henning Wiegmann. Auch muss es sich bei kritisierten Werbeaktivitäten um kommerzielle Zusammenhänge handeln. Die 13 Mitglieder des Werberats haben ausschließlich ein Mandat für kommerzielle Kommunikation im Auftrag der 40 im Zentralverband der deutschen Werbewirtschaft ZAW vereinten Organisationen der Werbeinvestoren, Medien und Agenturen.

Deutlich mehr Fälle vor dem Gremium

Insgesamt 305 Kampagnen kamen auf den Tisch des Werberats zur Entscheidung. Das waren 16 Prozent mehr als im Vorjahr (262). Davon sprach das Gremium in 233 Fällen die Firmen frei (Vorjahr: 175). Dieses Urteil erfolgt dann, wenn sich nach Abwägung der Umstände des Einzelfalls der kritische Einwand des Beschwerdeführers als nicht tragfähig für eine Beanstandung erweist. So protestierte beispielsweise ein Bürger gegen den Ausdruck "Versicherungs-Chinesisch" in der Plakatwerbung einer Versicherungsfirma. Seiner Meinung nach sei dies "Rassismus gegenüber der chinesischen Kultur". In einem anderen Fall fühlte sich ein Beschwerdeführer empfindlich beleidigt als ein Kaufhaus in seinem Prospekt Schlafanzüge mit einem kleinen Mädchen bewarb, das mit seinen Eltern im Bett liegt und dem Betrachter verschmitzt lächelnd die Zunge herausstreckt.

Selbstdisziplin trotz rechtlicher Unbedenklichkeit

Bei 72 Werbekampagnen stellte sich der Werberat an die Seite der Protestler. Sein Votum setzte sich bei den Unternehmen fast immer sofort durch: Die vom Werberat beanstandete Werbung wurde überwiegend aus dem Markt genommen (57 Fälle) oder entsprechend geändert (9 Fälle). Das entspricht einer Durchsetzungsquote des Gremiums  von 92 Prozent und damit einer extrem hohen Akzeptanz seiner Urteile in der Wirtschaft. "Werbung aus dem Markt zu nehmen, obwohl sie rechtlich in Ordnung ist, zeugt nicht nur von ausgeprägter Autorität des Werberats, sondern vor allem auch von Selbstverantwortung der werbenden Unternehmen", so Wiegmann.

Uneinsichtige Unternehmen öffentlich gerügt

Stoppt eine Firma nicht unmittelbar die beanstandete Werbung oder korrigiert sie, setzt das Gremium den Vorgang durch eine Öffentliche Rüge der Diskussion in den Massenmedien aus. 2012 war das sechsmal der Fall, in allen Fällen wegen frauenherabwürdigender Werbeformen.

Betroffen von der Sanktion waren im Berichtsjahr das Möbelhaus Tristan Einrichtungs GmbH (Hamburg), das Restaurant-Kaffee Bob's Gastro GmbH (Augsburg), die Metzgerei Mayer (Landshut), der Alkoholproduzent G-Spirits (Tapfheim,Schwaben/Landkreis Donau-Ries), das Handelsunternehmen Küche direct Leipzig sowie die Kienzle GmbH (Bad Friedrichshall), Produzent von Folien-Tastaturen und Touch-Eingaben-Systemen.

Jüngster Fall einer Öffentlichen Rüge vom Werberat wegen herabwürdigender Werbeform: Das Unternehmen car clean (Hoyerswerda) wirbt auf seiner Facebook-Seite mit einer Abbildung weiblicher Beine - zwischen deren Fußknöcheln strafft sich ein Slip. Text dazu: "Noch unten ohne???". Das Angebot der Firma betrifft "Unterbodenversiegelung".

Bei Urteilen gilt das Balance-Gebot                                                   

Die Entscheidungen fällt ein Gremium aus 13 Experten aller Bereiche der Branche. Sie werden von den 40 im Zentralverband der deutschen Werbewirtschaft ZAW organisierten Verbänden alle drei Jahre gewählt. Besonderen Wert legt der Werberat bei seinen Beurteilungen auf ausgewogene Entscheidungen. Das Gremium orientiere sich an der gesellschaftlichen Realität unter Einbeziehung der ständig in Bewegung befindlichen Lebenssachverhalte. "Die aktuell herrschende Auffassung über Sitte, Anstand und Moral in der Gesellschaft, die Verhaltensweisen der Bürger im öffentlichen Leben sowie die Medienwirklichkeit sind neben der Prüfung der Rechtstreue von kommerzieller Werbung wesentliche Konstanten im Urteilsschema des Rats", heißt es im Jahresbericht der deutschen Werbeselbstdisziplin. So würde das Gremium beim Beschwerdemotiv von unterstellter Diskriminierung von Frauen auch feministische Sichtweisen als Teil einer aktuellen Weltanschauung einbeziehen - neben anderen Aspekten des gesellschaftlichen Lebens als Prüfkriterien.

Vorwurf der "Frauendiskriminierung" dominiert

Die Gründe, warum sich im Jahr 2012 die Bevölkerung an den Werberat mit Beschwerden wandte, verteilen sich über 15 Motivfelder. 112 Unternehmen, und damit über ein Drittel (37 Prozent; Vorjahr: 34 Prozent), sahen sich dem Vorwurf gegenüber, ihr Werbesujet beleidige und diskriminiere Frauen. Mit Abstand folgen weitere Protestgründe: Diskriminierung von Personengruppen (29 Kampagnen / 10 Prozent), Gewaltverherrlichung (27 / 9 Prozent), Gefährdung von Kindern und Jugendlichen (19 / 6 Prozent), Verstoß gegen moralische Mindestanforderungen (16 / 5 Prozent), Rassendiskriminierung (10 / 3 Prozent), Unzuträgliche Sprache in der Werbung (10 / 3 Prozent). Andere Beschwerdemotive lagen im einstelligen Bereich.

Werbung der Medien am stärksten betroffen

Auffällig bei den von Werbekritik aus der Bevölkerung betroffenen Branchen war die Dominanz der Eigenwerbung der Medien mit 29 Kampagnen - deutlich mehr als im Jahr zuvor mit 14 betroffenen Sujets. Der Dienstleistungssektor folgt mit 25 Vorgängen (Vorjahr: 22), Unterhaltungselektronik 25 (22), Gaststättengewerbe 24 (14) und Bekleidung mit 23 Kampagnen (17).

Bemerkenswert auch, dass trotz der öffentlichen Erregbarkeit in Sachen Lebensmittel diese Branche erst an sechster Stelle mit 22 (20) von Protesten belegten Kampagnen folgt. "Offensichtlich klafft dort eine Lücke zwischen werbegeübten und lebenserfahrenen Konsumenten einerseits und politisch-medial inszenierten vorgeblichen Problemen in der Lebensmittelwerbung andererseits", beobachtet der Werberat.

Die weiteren Branchen vor dem Werberat lagen 2012 unter der Menge von 20 kritisierten Sujets.

Plakate und TV-Spots im Visier der Kritiker

Nach Mediengruppen haben den Protestlern aus der Bevölkerung einzelne Werbedarstellungen auf Plakaten (81 Sujets) und Fernsehspots (80) am meisten missfallen. Mit Abstand folgen Prospekte (36), Werbung im Internet (31), Anzeigen in Publikumszeitschriften (19) sowie Werbung in Tageszeitungen gleichauf mit Radiospots (12). Andere Werbemediengattungen wie Anzeigen in Fachzeitschriften oder Kinospots liegen unterhalb der Bedeutungsschwelle.

Werberat lobt Kritiker und Wirtschaft

Als Fazit seines Arbeitsberichts bestätigt das Gremium  den Werbekritikern soziales Engagement. "Die Proteste spiegeln wider, dass die Bevölkerung nicht gesellschaftlich empfindlich, sondern empfindsam mit kritischen Werbedarstellungen umgeht." Daran ändere nichts die Tatsache, dass es immer wieder auch zu überzogener Werbekritik komme, die sich insbesondere aus sehr persönlicher Sicht des Beschwerdeführers speist.

Dem überwiegenden Teil der werbenden Wirtschaft, den Agenturen und werbungtragenden Medien bescheinigt die Instanz überwiegend ein ausgeprägtes Fingerspitzengefühl, wie weit Werbung in der Präsentation von Waren und Dienstleistungen gehen darf. Auch die hohe Akzeptanz der Beurteilungen der Entscheidungen des Werberats würdige das Gremium als Beitrag zur Selbstverantwortung der Unternehmen in Deutschland für ihre Markt-Kommunikation weit über die Rechtstreue hinaus.

 

Hinweis

Die Angaben hinsichtlich der Gestaltung der jeweiligen Werbemaßnahme sowie des verantwortlichen Unternehmens beziehen sich auf den für das Beschwerdeverfahren maßgeblichen Zeitpunkt der öffentlichen Rüge. Die aktuelle Gestaltung der Werbemaßnahme und das heute hierfür verantwortlich zeichnende Unternehmen können daher von den damaligen Gegebenheiten abweichen.